Station 7

Fritz Neuland

Bayerstraße 3 (Lenbachplatz hinter dem Baum)

 

Ich bin sechs Jahre alt. An der Hand meines Vaters irre ich durch die Straßen. […] Er hastet, bemüht sich aber, nicht zu rennen. Ich muss achtgeben nicht zu stolpern. Ich darf nicht stürzen. Wir dürfen nicht auffallen. Wir sind auf der Flucht. Mitten in unserer Stadt, in München.

Das sind die Erinnerungen von Charlotte Knobloch, der derzeitigen Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, an den 10. November 1938, als sie an der Hand ihres Vater durch die Straßen Münchens vorbei an den zerstörten Geschäften und Synagogen geht. Fritz Neuland, ihr Vater, ist ein angesehener Rechtsanwalt in München. Seine Kanzlei befindet sich am Stachus, im Zentrum der Stadt.

Fritz Neuland wird am 30. Januar 1889 in Bayreuth geboren. Wie viele andere deutsche Juden kämpft er im Ersten Weltkrieg für sein Vaterland. 1919, nach Beendigung seines Referendariats wird er als Rechtsanwalt zugelassen. Nicht weit von hier, in der Bayerstraße 3 betreibt er eine erfolgreiche Kanzlei.

Nach der „Machtübernahme“ entziehen die Nationalsozialisten ihm 1933 seine Approbation als Anwalt. Das „Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ drängte jüdische Juristen aus ihren Berufen hinaus. Nur weil Fritz Neuland sich auf seinen Frontkämpferstatus im Ersten Weltkrieg berufen kann, wird er 1934 zunächst wieder als Anwalt zugelassen. Als 1938 allen jüdischen Rechtsanwälten ihre Zulassung entzogen wird, darf auch der unter seinen Kollegen hochangesehene Jurist Neuland nur noch als sogenannter „Rechtskonsulent“ für jüdische Mandanten tätig sein.

 Nach dem Novemberpogrom erhält Fritz Neuland eine anonyme Warnung: Er soll weder in die Kanzlei noch in seine Wohnung gehen. Seine Tochter Charlotte Knobloch schreibt über jene Tag in ihren Memoiren:
„Vater heißt mich sofort meinen Mantel anzuziehen. Wir müssen unsere Wohnung verlassen. […]Wir treten in die Dunkelheit und gehen schnellen Schrittes los. Doch zu meiner Überraschung laufen wir nicht in Richtung von Vaters Kanzlei am Stachus.[…] Wir machen uns auf den Weg durch das nächtliche München. Von einer Telefonzelle ruft Vater in der Kanzlei an. Er verlangt sich selbst zu sprechen. Eine Stimme in schneidigem Ton antwortet ihm, Neuland sei nicht da, aber keine Sorge, den würden sie noch zu fassen kriegen. Die SA hatte meinem Vater in der Kanzlei aufgelauert.“

Fritz Neuland geht mit seiner 6- jährigen Tochter zu Fuß bis in das 20 km entfernte Gauting. Dort finden sie Unterschlupf bei Freunden. Es vergehen einige Tage, bis sie wieder nach München zurückkehren können. Die Verfolgung der Juden verschlimmert sich weiter, im November 1941 beginnen die Deportationen. Fritz Neuland versucht alles, um seine Tochter in Sicherheit zu bringen. Er organisiert ein Versteck bei der ehemaligen Haushälterin seines Bruders, die sich bereit erklärt, das Kind bei sich in Arberg zu verstecken. In diesem Versteck bleibt Charlotte Knobloch bis zum Ende des Krieges. Fritz Neuland muss Zwangsarbeit in einem Rüstungsbetrieb leisten. Auch er taucht unter, als er im Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert werden soll, und überlebt mit der Hilfe von Freunden im Versteck.

Nach Kriegsende kehrte Fritz Neuland mit seiner Tochter nach München zurück. Er darf nun wieder als Anwalt arbeiten. Nur sehr wenige Münchner Juden haben die Shoah überlebt. Shoah, so nennen die Juden den Holocaust. Auf seine Initiative wird am 19. Juli 1945 die Israelitische Kultusgemeinde neu gegründet. Fritz Neuland wird zu ihrem 1. Vizepräsidenten gewählt. Von 1951 bis zu seinem Tod im Jahr 1969 amtiert er als ihr Präsident. Fritz Neuland war von 1951 an Mitglied des Bayerischen Senats und wurde 1959 mit dem Bayerischen Verdienstorden ausgezeichnet, dem zweithöchsten Orden, den das Bundesland Bayern vergibt.
 

Ariella Chmiel